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Berichte von patient:innen, mediziner:innen und

anderen expert:innen

Reto Weibel leidet an der angeborenen Krankheit Cystische Fibrose. Sie schädigt unter anderem die Lunge und führt zu chronischen und antibiotikaresistenten Lungeninfektionen. Als Reto Weibel geboren wurde, sagten die Mediziner:innen zu seinen Eltern, er werde kaum 18 Jahre alt werden. Reto Weibel ist heute 55.

Vor elf Jahren erhielt er eine Lunge transplantiert. Doch diese ist wieder chronisch infiziert und beeinträchtigt Weibels Lebensqualität. Darum würde er gerne eine Phagentherapie erhalten. Doch dies ist gemäss geltenden Regeln nicht möglich, weil es noch Reserveantibiotika gibt. Diese wollen ihm die Ärzte aber nicht geben, weil sie sie für den Notfall aufsparen möchten. Reto Weibel ist damit nicht einverstanden. Er plädiert vehement für eine grössere Mitsprache der Patient:innen in solchen und anderen Fragen, die sie betreffen. Reto Weibel war lange Jahre Präsident von Cystische Fibrose Schweiz. Heute ist er Ehrenpräsident.

Der Infektiologe Truong-Thanh Pham vom Genfer Universitätsspital (HUG) gibt Auskunft über die Folgen der Antibiotikaresistenz für seine Patient:innen, über die Phagentherapie und wie er damit einen Patienten (Bassim Karaman) höchstwahrscheinlich vor einer Amputation eines Beines bewahrt hat. Pham diskutiert auch die Hürden, die der Phagentherapie aktuell im Weg stehen und wie die Situation verbessert werden könnte.
Bassim Karaman gibt Auskunft über seine Krankengeschichte, nachdem er ein künstliches Kniegelenk eingesetzt bekommen hat und eine Infektion auftrat. Karaman wurde an der Genfer Uniklinik (HUG) mit Phagen behandelt, was ihn höchstwahrscheinlich vor einer Amputation seines Beines bewahrt hat.

«Bakteriophagen helfen gegen resistente Infektionen, aber in der Schweiz gibt es kaum Zugang zur Therapie»

Nicht nur Antibiotika können krankmachende Bakterien abtöten. Auch bestimmte Viren – sogenannte Bakteriophagen – können das. Um diese therapeutisch anzuwenden, fehlt in der Schweiz aber der rechtliche Rahmen. Was müsste sich ändern, damit mehr Kranke von der Therapie profitieren? Prof. Alexander Harms von der ETH Zürich erklärt.

Interview: Adrian Ritter, freier Autor

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Alexander Harms, wir stecken in einer Antibiotikaresistenz-Krise. Sind Phagen das Wundermittel, das uns daraus befreit?
Es ist auf jeden Fall so, dass die Phagen derzeit ein «Hype» sind. Das ist kein Wunder, wenn immer mehr Resistenzen gegen Antibiotika auftreten. Wir brauchen neue Wege, um bakterielle Infektionen zu behandeln. Als natürliche Gegenspieler der Bakterien haben die Phagen dabei grosses Potenzial. Sie haben sich während Jahrmillionen parallel zu den Bakterien entwickelt, kennen deren Tricks und können sich dagegen wehren. Der Vorteil der Phagen: Sie vermehren sich schneller als Bakterien. Wenn Bakterien Resistenzen gegen Phagen entwickeln, können sich diese schnell daran anpassen und die Resistenzen überwinden. Als Wundermittel würde ich Bakteriophagen trotzdem nicht bezeichnen.

Warum?
Phagen eignen sich bei akuten Infekten wie Blutvergiftungen weniger, hingegen bei chronischen Infekten. Und zwar aus Zeitgründen. Phagen wirken sehr spezifisch gegen bestimmte Bakterienstämme. Den passenden Phagen für eine Therapie zu finden kann jedoch aufwendig sein. Ärztinnen und Ärzte müssen mitunter weltweit bei diversen Universitäten und Spitälern anfragen, ob ein passender Kandidat in deren Phagensammlung vorhanden ist. Dazu sind jedes Mal Tests nötig. Das dauert mindestens zwei bis drei Tage, meist länger.

Bei chronischen Infektionen eilt die Zeit weniger?
Ja, das sind Infektionen, die schon länger bestehen und mit Antibiotika nicht mehr oder nicht vollständig behandelt werden können – etwa wegen Resistenzen. Hier sehe ich Phagen als sinnvolle Ergänzung zu Antibiotika. Typische Einsatzfelder für Phagen sind Infektionen der Lunge oder Harnwege, nach Knochenbrüchen oder bei chronischen Wunden.

Wie oft kommt die Phagentherapie heute zur Anwendung?
Aus den letzten zehn Jahren sind weltweit Anwendungen bei einigen hundert Patientinnen und Patienten dokumentiert. In der Schweiz waren es bisher knapp zehn Behandlungen an verschiedenen Universitätsspitälern. Es fehlt zwar an klinischen Studien, die heutigen Standards entsprechen. Aber aufgrund der bisherigen Erfahrungen kann man sagen, dass etwa drei Viertel der Behandlungen erfolgreich sind. Die bakteriellen Erreger werden zwar nicht immer gänzlich abgetötet, aber der Zustand der Patientinnen und Patienten verbessert sich deutlich. Manchmal rettet die Phagentherapie wirklich Leben, wenn sonst keine Hoffnung mehr besteht.

Warum wird die Phagentherapie nicht häufiger angewandt?
Einerseits, weil sie wie erwähnt aufwendig ist. Aber der wahrscheinlich noch wichtigere Grund: Es fehlt in den meisten Ländern an einem rechtlich klaren Rahmen für den Einsatz von Phagen in der Medizin. Phagen sind eine lebende Medizin, es sind Viren, die sich im Körper des Menschen vermehren. Das ist ein grosser Unterschied zu einem Antibiotikum in Tablettenform. Entsprechend lässt sich die gängige pharmazeutische Regulierung nicht einfach auf Phagen anwenden. Weil die Phagentherapie aufwendig ist und es am rechtlichen Rahmen fehlt, sind die grossen Pharmaunternehmen bisher nicht an einer kommerziellen Nutzung interessiert.

Wie ist die rechtliche Situation in der Schweiz?
Phagen sind in der Schweiz wie in vielen anderen europäischen Ländern nicht als Arzneimittel zugelassen. Patientinnen und Patienten haben deshalb kaum Zugang zu dieser Therapie. Phagen dürfen nur im Rahmen sogenannter individueller Heilversuche angewandt werden. Dazu müssen andere Behandlungen bereits ausgeschöpft sein. Eine Phagentherapie kommt ausserdem nur infrage, wenn ohne Behandlung schwerwiegende Folgen wie der Tod oder eine Amputation drohen.

Gibt es Länder, in denen ein geeigneter rechtlicher Rahmen besteht?
In Belgien können Ärztinnen und Ärzte Phagenpräparate über sogenannte magistrale Rezepturen direkt in der Apotheke anfertigen lassen – also beispielsweise in den Labors von Spitalapotheken. Dazu muss der entsprechende Phage im Arzneibuch gelistet sein, was in Belgien bereits für einige Phagen der Fall ist. So ist der Zugang zur Phagentherapie einfacher. In der Europäischen Union können die einzelnen Länder jetzt dieses belgische Modell übernehmen. Ich gehe davon aus, dass die Phagentherapie deshalb häufiger zum Einsatz kommen wird. Schon jetzt ist es so, dass Patientinnen und Patienten aus der Schweiz zum Teil ins Ausland reisen für eine Behandlung.

Was müsste sich aus Ihrer Sicht in der Schweiz ändern?

Als Erstes ist jetzt eine gesellschaftliche Debatte nötig, wie Schwerkranke Zugang zur Phagentherapie erhalten sollen. In einem vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Projekt arbeiten wir daran, eine Plattform [das Forum Phagentherapie] für den Dialog zwischen Fachpersonen und Bevölkerung zu schaffen. Dabei wollen wir auch die verschiedenen Optionen für eine rechtliche Regelung aufzeigen. Das belgische Modell ist dabei eine Möglichkeit. Eine andere ist zum Beispiel der australische Weg. Dort werden Einzelbehandlungen im Rahmen einer grossen, gemeinsamen klinischen Studie ermöglicht. Es bräuchte in der Schweiz einen klaren politischen Willen zu einem rechtlichen Rahmen, der zu den Besonderheiten der Phagentherapie und der Schweiz passt. Gleichzeitig muss die Frage der Finanzierung gelöst werden.

Was kostet denn eine Phagentherapie?
Das lässt sich kaum beziffern, zumal die Spitäler und Patientinnen und Patienten die Kosten bisher selbst tragen müssen. Klar ist: Derzeit ist eine Phagentherapie noch teurer als eine Antibiotikabehandlung, da der Prozess aufwendiger und weniger standardisiert ist. Gleichzeitig kann eine erfolgreiche Phagentherapie helfen, die hohen Kosten langjähriger, erfolgloser Standardtherapien zu verhindern. Und: Die Kosten einer Phagentherapie werden sicherlich sinken, wenn mehr Erfahrung vorhanden ist und Phagen noch besser erforscht sind.

Welche Rolle wird die Phagentherapie in Zukunft spielen?
Ich bin sicher, dass die Phagentherapie künftig häufiger eingesetzt wird. Der Druck seitens der Patientinnen und Patienten, die dafür nicht ins Ausland reisen wollen, wird zunehmen. Ich gehe nicht davon aus, dass es in der Schweiz eine sehr grosse Zahl von Behandlungen geben wird. Aber die Möglichkeit sollte vorhanden sein. Nicht jedes Spital muss Phagentherapie anbieten. Sinnvollerweise bilden sich an den Universitätsspitälern Zentren, die sich auf bestimmte Anwendungen spezialisieren und gemeinsam mit Forschenden aus der Mikrobiologie und anderen Fachrichtungen die Therapien umsetzen. Dank Fortschritten in der Wissenschaft wird die Behandlung noch wirksamer werden. Künstliche Intelligenz könnte in Zukunft helfen, den passenden Phagentyp schneller zu finden. Zudem wird daran geforscht, Phagen gentechnisch so zu verändern, dass sie etwa zusätzliche Giftstoffe gegen Bakterien produzieren oder Resistenzgene im Bakterium ausschalten können. So könnte die Phagentherapie noch wirksamer werden und noch mehr Kranken helfen.

Das Interview erschien zuerst auf ETH online. Mit freundlicher Genehmigung der ETH Zürich

«Für einen Patienten mit einer bestimmten Infektion sind Phagen die richtige Wahl, für einen anderen gibt es vielleicht andere Lösungen.»

Prof. Tristan Ferry und sein Team haben an den Hospices Civils de Lyon innerhalb von wenigen Jahren ein Phagentherapiezentrum für die Behandlung von infizierten Gelenkprothesen aufgebaut. Sie haben bereits rund 100 Patient:innen behandelt. Wie sind sie vorgegangen? Welche Schwierigkeiten gibt es?

Interview: Thomas Häusler, Forum Phagentherapie

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Tristan Ferry, können Sie erklären, wie es Ihnen und Ihrer Institution gelungen ist, in relativ kurzer Zeit so viele Behandlungen durchzuführen?
Wir haben bereits fast hundert Patient:innen mit Bakteriophagen behandeln können. Mehrere Faktoren haben dies ermöglicht. Der erste ist, dass wir seit 2009 ein Referenzzentrum für die Behandlung komplexer orthopädischer Infektionen sind, zum Beispiel infizierte Gelenkprothesen. Wir haben uns zunehmend auf schwierige Fälle konzentriert, zu denen wir konsultiert werden.
Der zweite Faktor ist, dass es in Frankreich eine Firma namens Phaxiam [1] gibt, die Phagen gegen Bakterien der Spezies Staphylococcus aureus und Pseudomonas aeruginosa nach Good Manufacturing Practice-Regeln (GMP) produziert.
Ein weiterer Faktor sind die französischen Behörden: Das Gesetz wurde geändert und erlaubt es nun, innovative Behandlungen schon sehr früh im Entwicklungsprozess im Rahmen des Compassionate Use [2] einzusetzen. Gemäss Gesetz kann ein Unternehmen einen Antrag stellen und wenn dieser für bestimmte Phagen genehmigt wird, übernehmen die französischen Behörden die Kosten für die Behandlung.
Wir haben am HCL eine multidisziplinäre Gruppe ins Leben gerufen, die prüft, ob eine Indikation eines Patienten für die Behandlung mit Phagen in Frage kommt – das ist eine wichtige Frage. Wir verfügen über Kompetenzen, um zu sagen: Das ist eine potenzielle Indikation. Aber diese Situation ist dynamisch – die Indikationen von heute sind vielleicht nicht die von morgen, je nachdem, wie sich die Möglichkeiten entwickeln.
Wir haben zudem eine Förderung der Fondation Hospices Civils de Lyon erhalten. Sie finanziert eine Projektmanagerin, die mich unterstützt: Sobald wir beschlossen haben, eine Behandlung durchzuführen, müssen viele Unterlagen erstellt werden. Ausserdem muss die Bakterienprobe zu Tests ins Labor geschickt werden. Danach muss der Phage bestellt werden – das ist ein logistischer Aufwand.
Ein letzter Punkt: Wenn die Phagen in der Apotheke ankommen, müssen sie am Tag der Behandlung unter sterilen Bedingungen vorbereitet werden. Das kostet Zeit – nicht alle Apotheker:innen sind bereit dazu. Unsere Spitalapotheker:innen sind aber sehr motiviert, den Patient:innen den Zugang zur Behandlung zu ermöglichen.

Mit Ihrer Erfahrung in beiden Welten der Behandlung von Infektionen – Antibiotika und Phagen – halten Sie Phagenbehandlungen unter den von Ihnen beschriebenen Prämissen für zulässig?
Es kommt auf den Einzelfall an. Für einen Patienten mit einer bestimmten Infektion sind Phagen die richtige Wahl, für einen anderen gibt es vielleicht noch andere Lösungen. Wir sind in einer Grauzone, zu bestimmen, ob ein Patient wirklich eine Phagentherapie braucht oder nicht.
Es ist schon vorgekommen, dass wir um eine Phagentherapie gebeten wurden, aber gesagt haben: Vielleicht gibt es noch einfachere Lösungen, bevor wir das machen. Umgekehrt gibt es Fälle, bei denen niemand an Phagentherapie denkt – etwa bei einer grossen infizierten Prothese, die nicht entfernt werden kann, weil der Patient aus bestimmten Gründen nicht erneut operiert werden kann – in diesem Fall ist Phagentherapie absolut sinnvoll. Man muss an dieser Grauzone arbeiten: Ist ein Fall etwas für Phagen oder nicht
Und der zweite Teil, der Probleme bereiten kann: Wenn man sich für eine Phagenbehandlung entschieden hat – woher bekommt man passende Phagen? In Frankreich ist das einfach, weil wir die Firma Phaxiam haben, die Phagen gegen Staphylococcus und Pseudomonas herstellt und auch das Phagogramm [3] macht. Aber wenn andere Bakterienspezies an der Infektion beteiligt sind, müssen wir die Phagen anderswo suchen, das dauert länger und ist komplexer: Das ist ein Problem, weil der Patient je nach Infektion warten kann oder nicht.
Zunächst muss man die Bakterienprobe ins Ausland schicken, um das Phagogramm zu machen und den Phagen zu testen. Allein der Transport kostet meist über 2000 Euro. Und alles dauert seine Zeit und wenn die Antwort schliesslich da ist, müssen alle Qualitätsanforderungen von den französischen Behörden geprüft werden, bevor sie grünes Licht für den Import geben – auch das dauert, weil sie viel zu tun haben. Sobald wir einen Phagen von ausserhalb Frankreichs brauchen, dauert es meist etwa einen Monat. Mit einem Phaxiam-Phagen aus Frankreich, kann es, wenn man schnell ist, eine Woche bis zehn Tage dauern.

Welches sind für Sie die wichtigsten Eigenschaften der Phagentherapie?
Ein Vorteil ist, dass es sich um ein natürliches Virus handelt, das keine Auswirkungen auf andere als die Zielbakterien hat. Es ist eine sehr spezifische Behandlung. Eine solche Therapie ist verglichen mit synthetischen Antibiotika sehr attraktiv. Man nutzt die Natur besser, weil es ein Gleichgewicht zwischen Viren und Bakterien gibt – dies beim Patienten einzusetzen ist sehr ökologisch.
Der grosse Nachteil ist, dass die Phagentherapie sehr spezifisch ist – man muss das Bakterium identifizieren, das den Patienten infiziert, das dauert. Dann muss man den passenden Phagen finden. Auch das dauert: Damit ein Patient behandelt werden kann, dauert es oft sehr lange, manchmal zu lange.
Die grosse Spezifität ist auch für für klinische Studien ein Problem, weil man nicht nur eine Infektart berücksichtigen muss, sondern auch die verantwortlichen Bakterienspezies. Die Zahl der Patient:innen, die man in Studien einschliessen kann, ist dadurch begrenzt. Wenn man 400 Patient:innen für eine Studie braucht (200 mit Phagenbehandlung, 200 in der Kontrollgruppe), um ein verwertbares Resultat zu bekommen, ist das kaum machbar, weil man zum Beispiel bei Harnwegsinfektionen nur die Fälle mit einer Bakterienart (z.B. Escherichia coli) in die Studie einschliessen kann. Das ist sehr relevant im Vergleich zu Studien mit Antibiotika.
Für mich ist das ein Schlüssel: Wir müssen Ansätze entwickeln, die mit kleineren Patient:innengruppen eine Aussage ermöglichen – das erfordert eine spezielle Methodik, die gegenwärtig entwickelt wird [4], und ich habe grosse Hoffnung, dass wir Fortschritte machen. Aber das alles nimmt viel Zeit in Anspruch.
In Frankreich ist Phagentherapie derzeit nur möglich bei chronischen Infektionen, die lebensbedrohlich sind oder schwerwiegende Folgen haben. Der neue Compassionate-Use-Zugang zu Phagen ermöglicht es nun auch, klinische Studien für weniger schwere Infektionen zu planen. Doch auch dies kostet viel Zeit und Geld: Eine klinische Studie kostet mehrere Millionen Euro, also muss man eine Finanzierung dafür finden – und auch das dauert.

Sie haben die GMP-Produktion erwähnt. Was halten Sie von der Diskussion darüber, ob sie wirklich unter allen Umständen nötig ist oder ob in gewissen Fällen wegen der hohen Kosten darauf verzichtet werden kann?
Es gibt zwei Dinge: GMP-Regulierung oder nicht und Patientensicherheit. Mir ist es eigentlich egal, ob ein Präparat gemäss GMP hergestellt ist oder nicht – ich verwende pharmazeutisch hochwertige Phagen, bei denen ich kein Risiko für meine Patient:innen sehe. Mit GMP ist das Risiko für die Patient:innen geringer als ohne. Wir wissen, dass schlecht gereinigte Phagen Nebenwirkungen verursachen können, und je mehr man Richtung GMP geht, desto sicherer ist es. Aber wenn man nur GMP zulässt, sieht man, dass man die Phagentherapie nicht umsetzen kann.
Ich stelle mir zwei Modelle vor: Zum einen stellen Firmen Phagen gegen manche Bakterienarten wie Staphylococcus aureus oder Pseudomonas aeruginosa gemäss GMP her. Aber die Industrie wird nicht für alle Bakterien Phagen unter GMP herstellen. [Weil es sich wirtschaftlich nicht lohnt.] Es gibt aber Patient:innen, die von Infektionen mit anderen Bakterien betroffen sind. Für sie brauchen wir Phagen aus anderen Quellen, die in guter Qualität hergestellt sind, aber nicht gemäss GMP. Beide Modelle sind wichtig. Ich als Kliniker sage: Solange das, was ich verwende, nicht gefährlich ist – dann los! Aber genau dafür brauchen wir beide Modelle.

[1] Phaxiam musste 2025 Insolvenz anmelden. Die Firma ist im Oktober 2025 unter dem Namen Phagenix neu an den Start gegangen.

[2] Die Regeln des sogenannten Compassionate Use sind je nach Land unterschiedlich geregelt. In der Schweiz dürfen Medikamente, die in einer laufenden klinischen Studie getestet werden, mit einer Bewilligung durch die Swissmedic anderen Patient:innen verabreicht werden, wenn diese nicht an der Studie teilnehmen können. Die Medikamente sind gemäss GMP produziert, dies ist für ihre Verwendung in einer klinischen Studie vorgeschrieben. In Frankreich dürfen Firmen in Compassionate Use-Fällen nach Antrag bei der Behörde ANSM eine Vergütung für die zur Verfügung gestellten Medikamente verlangen. Dies ist normalerweise nicht erlaubt.

[3] Test, welche Phagen aus einer Sammlung gegen ein Bakterium aktiv sind, das aus eine:r Patient:in isoliert worden ist.

[4] Solche hochentwickelten statistischen Methoden werden zum Beispiel auch für klinische Studien im Bereich seltener Krankheiten benötigt und entwickelt.

Das Interview wurde im November 2024 geführt.

«Man sollte einem Patienten, der keine anderen Optionen hat und für den das Produkt vielleicht lebensrettend ist, den Zugang zu einem Medikament nicht verwehren.»

Dr. Radu Botgros ist Senior Officer des Office of Health Threats and Vaccine Strategy der European Medicines Agency (EMA), der Zulassungsbehörde für Medikamente der EU. Er nimmt Stellung zur Frage, ob Phagen in Notfällen eingesetzt werden sollten. Er äussert sich auch dazu, was es braucht, damit Phagenpräparate regulär zugelassen werden können und wie man mit den Besonderheiten der Therapie regulatorisch umgehen könnte.

Interview: Thomas Häusler, Forum Phagentherapie

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Radu Botgros, was ist notwendig, damit die European Medicines Agency (EMA) einem Phagenpräparat eine Marktzulassung erteilen kann?
Wie bei jedem Arzneimittel müssen wir sicher sein, dass die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit des zu prüfenden Präparats gegeben sind. Wir brauchen Belege, dass das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko des Phagen-Arzneimittels positiv ist.

Das bedeutet, Sie brauchen positive Ergebnisse aus randomisierten Doppelblindstudien?
Ja, wir benötigen positive Ergebnisse aus gut durchgeführten und gut konzipierten randomisierten klinischen Studien, die mit einer relevanten Population von Patient:innen durchgeführt wurde, für die Indikation, für die das Medikament zugelassen werden soll. Dazu brauchen wir ergänzende Ergebnisse aus nicht-klinischen Studien.
Wir haben einige Leitlinien erarbeitet und können den Entwicklern eines Medikaments auch wissenschaftliche Beratung anbieten. Dies ist nicht gesetzlich bindend, aber ich denke, sie sind sehr hilfreich, um bestimmte Fragen zu klären – nicht nur wissenschaftliche, sondern auch rechtliche und regulatorische Aspekte. Nach unserer Einschätzung müssen Phagenpräparate oder Cocktails, also Mischungen von Phagen, möglicherweise wiederholt aktualisiert werden.

Dadurch stellt sich die Frage, ob es jedes Mal eine neue Zulassung braucht, was sehr teuer und aufwändig wäre. Der Grippeimpfstoff wird jedes Jahr angepasst. Dafür gibt es angepasste Zulassungsverfahren. Denken Sie über ähnliche Lösungen für Phagen nach?
Es gibt zwei mögliche Wege. Die eine ist das, was wir einen festen Cocktail aus Phagen nennen, bei dem wir im zu entwickelnden Arzneimittel bereits auf Basis der Epidemiologie auswählen, wie gut der zu behandelnde Bakterienstamm von diesem speziellen Cocktail abgedeckt wird. Für diese Art von Produkten passt die Gesetzgebung. Sie lässt sogar zu, die Zusammensetzung zu ändern, wenn eine Resistenz gegen den Phagen entsteht. Dafür gibt es ein Verfahren, das «Variation der Zulassung» genannt wird.
Für personalisierte Therapien ist das jedoch etwas komplexer und erfordert weitere Diskussionen mit der Europäischen Kommission. Derzeit wird an einem aktualisierten Gesetzespaket gearbeitet, das auch Phagen betrifft, und wir hoffen, dass wir gemeinsam mit der Kommission einen Weg finden, Arzneimittel mit variabler Zusammensetzung zuzulassen.

Manche Experten nennen ein weiteres Problem, das die personalisierte Phagentherapie betrifft: Die Vorschriften für die Herstellung von Arzneimitteln, die auch Phagen erfüllen müssen, die so genannte Good Manufacturing Practice (GMP), sei zu teuer für diese Art der Anwendung, die auf viele verschiedene Phagenpräparate in kleinen Mengen angewiesen ist. Wie sehen Sie das?
Ich denke, es herrscht Verwirrung zwischen Compassionate Use [1], also der Gabe eines noch nicht zugelassenen Medikaments an Patient:innen, die keine oder kaum andere Behandlungsoptionen haben, und der Frage, ob für diesen Prozess GMP notwendig ist. Diese Frage entscheiden die einzelnen Mitgliedstaaten individuell für sich, die EMA ist dafür nicht zuständig. In diesem Bereich kann GMP tatsächlich eine sehr hohe Hürde sein.
Um ein Arzneimittel im zentralisierten Verfahren der EMA zuzulassen, das danach in allen 27 EU-Mitgliedstaaten verwendet werden kann, ist GMP bei dieser Art von Produkt aus meiner Sicht ein Muss – nicht nur, weil es gesetzlich vorgeschrieben ist, sondern auch, weil GMP die Mission der EMA unterstützt, nämlich die öffentliche Gesundheit zu schützen. Dies, weil der GMP-Standard sicherstellt, dass die Sicherheit des Arzneimittels reproduzierbar und kontrolliert ist. Das ist für Patient:innen sehr wichtig, GMP ist nicht nur dazu da, den Entwicklern das Leben schwer zu machen.

Belgien hat den sogenannten „magistralen Ansatz“ entwickelt, um der personalisierten Phagentherapie einen Rahmen zu geben und sie zu erleichtern. Das europäische Arzneimittelbuch ist nun analog ergänzt worden, sodass einzelne EU-Länder das belgische Modell übernehmen können [2]. Wie beurteilt die EMA dies?
Dies passiert im Rahmen des Compassionate Use. Wir sehen keine Konkurrenz zwischen zentral zugelassenen Produkten und diesem magistralen Weg – die beiden haben sehr unterschiedliche Zwecke.
Das magistrale Format erlaubt es dem Patienten, eine Behandlung zu erhalten, die nicht zugelassen ist – nicht zugelassen für eine bestimmte Indikation (Art und Ort der Infektion im Körper) und Patientengruppe. Ich muss sagen, dass die Begriffe «zugelassen» für das Medikament und «nicht zugelassen» für die konkrete Anwendung etwas verwirrend sind, selbst für mich. Im Wesentlichen bedeutet Compassionate Use, dass dem Patienten ein nicht zugelassenes Medikament gegeben wird, was natürlich mit Einschränkungen verbunden ist.
Eine der Hauptbeschränkungen bei Phagen ist, dass wir noch nicht sicher wissen, ob sie wirken – das ist ein sehr wichtiger Punkt, der für eine zentrale Zulassung geklärt werden muss, und ich denke, auch für jede andere Zulassung in anderen Ländern. Wichtig ist, dass der Patient sicher sein kann, dass er einen Nutzen hat, wenn er das Produkt erhält.

Was sagen Sie zur aktuellen Situation, in der wir einerseits keine positiven Ergebnisse aus klinischen Studien haben, die für eine Zulassung notwendig wären, aber andererseits viele Patient:innen, denen nicht geholfen werden kann? Würden Sie Compassionate Use-Behandlungen bis zum Vorliegen dieses Nachweises für sinnvoll halten?
Absolut, und genau das passiert auch. Ich denke, nicht nur die Gesetzgebung erlaubt das, sondern es ist auch sinnvoll: Man sollte einem Patienten, der keine anderen Optionen hat und für den das Produkt vielleicht lebensrettend ist, den Zugang zu einem Medikament nicht verwehren.
Aber dies geschieht aufgrund von Annahmen: Wir gehen davon aus, dass Phagen im Allgemeinen sicher sind und wirken. Dies basiert auf anekdotischer Evidenz, also Fallserien. Es gibt zwar einige kleine klinische Studien, von denen einige nicht einmal positive Ergebnisse erzielten. Wir müssen mehr Daten generieren, um sicher zu sein, dass diese Art von Medikamenten wirkt.

Angenommen, eine oder zwei klinische Studien werden einen Wirksamkeitsnachweis für bestimmte Indikationen liefern. Gibt es einen Mechanismus, dass diese Studien als Grundlage für eine breitere Anwendung dienen können, auch wenn es keine Studien für jede andere Indikation gibt? Klinische Studien sind teuer, und bisher werden sie im Bereich der Phagentherapie nur von kleinen Firmen durchgeführt, die sich auf wenige Studien konzentrieren müssen.
Das ist etwas, was wir mit unseren Stakeholdern diskutieren werden – und mit Stakeholdern meine ich alle aus der Wissenschaft, Fachgesellschaften, Industrie usw., vielleicht auch andere Regulierungsbehörden. Es gibt auf jeden Fall eine Rolle für Real-World-Evidence [3].
Zuerst müssen wir aber den Wirksamkeitsnachweis erbringen. Sobald der da ist, schauen wir uns gern die Qualität der gesammelten Real-World-Evidence an, und es gibt internationale Initiativen dazu. Ich kann Ihnen im Moment nicht sagen, wie das ausgehen wird, weil wir erst die Daten sehen müssen. Sicherlich werden sie unterstützend sein, manchmal kann man darauf basierend bis zu einem gewissen Grad extrapolieren, aber das muss im Einzelfall entschieden werden.

[1] Der Begriff Compassionate Use wird nicht immer vollkommen identisch verwendet: Der Vorgang, für den ihn Radu Botgros verwendet, heisst in der Schweiz «individueller Heilversuch». Als Compassionate Use wird in der Schweiz ein Fall bezeichnet, in der ein:e Patient:in mit einem Medikament behandelt wird, das zwar noch nicht zugelassen ist, aber bereits in einer klinischen Studie getestet wird. Dafür braucht es eine Bewilligung der Swissmedic, für einen individuellen Heilversuch nicht.

[2] Portugal hat dies z.B. gemacht.

[3] Nachweise, die nicht durch klinische Studien erbracht worden sind, die als aussagekräftigste Lieferanten für Evidenz in der Medizin betrachtet werden, sondern durch Fallberichte, Erfahrungen etc. Diese liefern Evidenz, die weniger hoch eingestuft wird.

Das Interview wurde im November 2024 geführt.

«Man hat eine Person mit einer Infektion, aber man kann nichts tun. Das ist für uns absolut unerträglich.»

Prof. Jacques Schrenzel ist der Direktor des bakteriologischen Labors im Universitätsspital Genf (HUG). Er präsidiert die Eidgenössische Fachkommission für biologische Sicherheit und war bis vor kurzem Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Mikrobiologie. Er erklärt, wie und warum es zu Antibiotika-Resistenzen kommt. Warum Menschen mit chronischen Infektionen besonders gefährdet sind und warum Resistenzen zunehmend die moderne Medizin gefährden.

Interview: Thomas Häusler, Forum Phagentherapie

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Jacques Schrenzel, warum macht man eine genaue bakterielle Diagnostik bei eine:r Patient:in mit einer Infektion?
Eine bakterielle Diagnostik macht man aus mehreren Gründen. Erstens will man sicher sein, dass eine Infektion vorliegt. Man weist Bakterien nach und will dann wissen, um welches Bakterium es sich handelt und wie man es behandeln kann, typischerweise mit welchem Antibiotikum.

Können Sie erklären, wie sich bei Patienten, die wie Herrn Vidal im Film «Phagentherapie – die Medizin geht viral» an einer chronischen Infektion leiden, die Bakterien eine Resistenz gegen Antibiotika entwickeln?
Zunächst einmal muss man sagen, dass Antibiotikaresistenz etwas Normales ist. Alle Bakterien entwickeln Resistenzen oder fast alle, auch ohne menschliches Zutun, weil sie in ihrer Umgebung überleben müssen und manche Organismen wie zum Beispiel Pilze antibiotische Substanzen herstellen.
Die Antibiotikaresistenz wird aber beschleunigt, wenn man Antibiotika einsetzt, besonders wenn man sie bei einem Patienten mit chronischer Infektion häufig verwendet. Herr Vidal hat eine Lungenerkrankung, die dazu führt, dass er regelmässig mit Antibiotika behandelt werden muss. Das heisst: Jedes Mal werden die Bakterien, die die Infektion verursachen, dazu angeregt, Resistenzen zu entwickeln oder bereits resistente Bakterien werden gegenüber anderen gefördert. Je länger das dauert, desto mehr hochresistente Bakterien treten auf.

Das heisst, bei chronischen Infektionen ist diese Entwicklung unvermeidlich?
Es ist fast normal, leider, und es wird durch die regelmässige Behandlung dieser Patienten gefördert. Man kann dies begrenzen, indem man nur behandelt, wenn es nötig ist, mit hohen Dosen und für kurze Zeit. Aber jedes Mal, wenn man eine Antibiotikatherapie beginnt, geht man ein Risiko ein. Wenn man das oft macht, kommt es häufig vor, dass sich in Patienten mit chronischen Krankheiten am Ende multiresistente Stämme [1] entwickeln.
Diese Herausforderung ist vielfältig. Erstens ist man es als Arzt gewohnt, zu bestimmen, mit welchen Antibiotika man einen Patienten behandelt. Wenn man sieht, dass alle Antibiotika unwirksam sind, weiß man nicht mehr, was man tun soll. Man versucht, eine Kombination von Antibiotika zu geben, aber man weiss überhaupt nicht, ob es funktionieren wird. Das ist beängstigend für den Patienten und auch für uns Ärzte. Man ist gezwungen, mehrere Wirkstoffe statt nur einem zu verwenden, das ist toxischer, schlechter verträglich und die Ergebnisse sind unsicher.
Manchmal merkt man, dass es nicht funktioniert, und dann ist man in einer sogenannten Sackgasse. Man ist frustriert, weil man den Patienten nicht behandeln kann, weil man keine Mittel mehr hat. Das heisst, man befindet sich in einer Situation wie vor dem Antibiotika-Zeitalter: Man hat eine Person mit einer Infektion, man weiss sicher, dass sie eine Infektion hat, man kennt den Namen des Bakteriums, das die Infektion verursacht, aber man kann nichts tun. Und das ist für uns absolut unerträglich.
Deshalb verwenden wir zusätzlich zu den Antibiotika-Kombinationen alternative Methoden. Manchmal greifen wir auf Phagen zurück, um sozusagen eine Art Zaubertrank für diese Patienten zu finden.

Und wenn Sie solche Patient:innen trotz allem nicht erfolgreich behandeln können?
Wenn wir einen Patienten mit einer schweren Infektion, zum Beispiel einer Lungeninfektion mit multiresistenten Bakterien, nicht behandeln können, wird er an dieser Infektion sterben. Das ist also sehr ernst.
Wenn sich diese Situation in unseren Spitälern häufiger wiederholen würde, wären wir in einer sehr unangenehmen Lage, weil viele Methoden, die wir in der Medizin eingeführt haben, wie zum Beispiel die Intensivmedizin oder moderne Krebstherapien, mit dem Risiko einer Infektion einhergehen.
Wenn die Infektionen zunehmend multiresistent werden, fragt man sich, ob man das Risiko eingehen kann, einen Patienten zu heilen und ihn dabei einer potenziell tödlichen Infektion auszusetzen [2]. Das verändert unsere Perspektive grundlegend. Deshalb sind wir besorgt über Antibiotikaresistenzen und versuchen, sie so weit wie möglich zu begrenzen, nicht nur für Einzelfälle, sondern für die Allgemeinheit, weil das die Art und Weise, wie wir Patienten mit nicht-infektiösen Krankheiten behandeln, stark in Frage stellen würde.

Das bedeutet, dass ein grosser Teil der modernen Medizin auf der Annahme beruht, dass man eine Infektion mit Antibiotika in den Griff bekommt.
Wir haben vieles darauf aufgebaut. Zum Beispiel kann man Patienten auf der Intensivstation behandeln, die schwere Traumata (Verletzungen) erlitten haben und sehr häufig Infektionen bekommen, weil sie künstlich beatmet werden [3]. Sind diese Infektionen multiresistent, wird es viel schwieriger. Wir riskieren, viel mehr Patienten zu verlieren, auch wenn sie nicht wegen einer Infektion ins Spital gekommen sind.
Ebenso bei Krebserkrankungen: Man kann den Krebs behandeln und heilen, muss aber ein Gleichgewicht finden, damit die eingesetzten Mittel nicht zu toxisch sind. Manchmal geht das auf Kosten eines geschwächten Immunsystems, und man verlässt sich darauf, dass man mit Antibiotika eine Infektion auffangen kann. Wenn diese Infektion jedoch durch einen multiresistenten Keim verursacht wird, hat man den Patienten einer nicht heilbaren Infektion ausgesetzt.
Wir müssten einen Grossteil unserer Strategie für schwere Infektionen und aufwändige Behandlungen wie bei Krebs überdenken. Zum Glück ist das nicht alltäglich, zum Glück ist es selten, aber es ist besorgniserregend. Es ist beunruhigend, dass wir im 21. Jahrhundert so etwas sehen, genau wissen, was passiert, und überhaupt nicht wissen, wie sich die Situation entwickeln wird. Das macht uns grosse Angst. Das ist der Grund, warum wir Alarm schlagen, warum wir versuchen, andere Lösungen zu finden, um zusätzliche Behandlungsmöglichkeiten zu haben, andere Ansätze zu entwickeln, weil wir unbedingt vermeiden wollen, in diese therapeutische Sackgasse zu geraten, in der wir Patienten nicht mehr behandeln können. Wir wollen alle für dieses Thema sensibilisieren.

Manche Expert:innen und Berichte warnen, dass die Antibiotikakrise noch viel schlimmer werde, wenn wir nichts tun. Andere sind etwas optimistischer.
Prognosen sind schwierig, aber eines ist sicher: Die Antibiotikaresistenz nimmt zu, und wenn wir in diese Sackgasse geraten, wäre das eine Katastrophe für die moderne Medizin. Ob das Risiko sehr hoch oder hoch ist, ist schwer zu sagen, aber wir müssen unbedingt vermeiden, in eine solche Situation zu geraten.

Aus Ihrer täglichen Arbeit: Was sind die wichtigsten problematischsten Bakterien?
Natürlich gibt es viele Bakterien, die uns Probleme bereiten, etwa 300, die wir regelmässig in der klinischen Medizin antreffen. Einige der problematischsten Bakterien sind Bewohner unseres Verdauungstrakts. Zum Beispiel Escherichia coli oder Klebsiella pneumoniae. Das sind Keime, die Sie, ich und unsere Leser:innen im Darm haben. Das ist normalerweise kein Problem, aber manchmal können diese Bakterien bei bestimmten [körperlichen] Schwächen Infektionen verursachen. Diese Bakterienarten machen uns besonders zu schaffen, weil sie Wege gefunden haben, Resistenzen gegen viele, manchmal alle Antibiotika zu entwickeln.
Andere Arten kommen in der Umwelt vor, wie Pseudomonas. Das sind Bakterien, die man zum Beispiel sieht, wenn man einen Rosenstrauss nach ein paar Tagen wegwirft und an den Stielen eine gelatineartige, grünliche Substanz entdeckt – das sind Pseudomonas, die an den Rosenstielen wachsen.
Bei bestimmten geschwächten Patienten können diese Keime Infektionen verursachen. Und diese Umweltkeime sind manchmal extrem resistent gegen Antibiotika. Das sind die beiden grossen Gruppen von Bakterien, die uns derzeit am meisten beschäftigen.

Wie sieht die Resistenzlage bei diesen von Ihnen erwähnten Bakterien in der Schweiz aus?
Wir haben in der Schweiz den Vorteil, dass Antibiotika kontrolliert verschrieben werden und alle, die im Gesundheitswesen tätig sind, wissen, dass man Antibiotika gezielt und sparsam einsetzen muss.
Aber wir importieren Bakterien aus dem Ausland, die resistenter sein können, oder wir selektieren auch bei unseren Patienten Bakterien, die mit jeder weiteren Antibiotikabehandlung resistenter werden. Wir sind damit konfrontiert, wenn auch weniger als andere Länder, aber der Trend ist weltweit derselbe. Wir sind – zum Glück – noch nicht in der Spitzengruppe der am meisten betroffenen Länder.

Sie haben andere Länder erwähnt, in denen die Situation sehr ernst ist und dass wir aus diesen Ländern resistente Bakterien importieren. Wie geschieht das?
Es gibt Länder, in denen es keine Einschränkungen für die Verschreibung von Antibiotika gibt. Jeder kann Antibiotika kaufen, was sehr bedenklich ist, weil man nicht weiss, was man kauft, welche Qualität die Wirkstoffe haben, ob man sie braucht und ob es die richtigen sind. Diese Mischung verschärft die Situation.
Wenn man in diese Länder reist, auch wenn man nicht krank ist, kommt man mit multiresistenten Bakterien in Kontakt, sie sind überall. Und manchmal bringt man sie mit nach Hause, im Verdauungstrakt, zusammen mit den Urlaubserinnerungen. Meistens ist das kein Problem, weil diese Bakterien nach der Rückkehr verschwinden. Wenn man aber Pech hat und ein gesundheitliches Problem bekommt, das eine Infektion begünstigt, etwa einen schweren Unfall oder eine Lungenentzündung, dann kann es passieren, dass diese importierten Bakterien eine Infektion verursachen. Dann ist die Situation viel schwieriger als das, was wir in der Schweiz normalerweise erleben.

Sie sagten, es sei gut, Alternativen zu haben, wenn man sich in einer ausweglosen Situation wegen einer Antibiotikaresistenz befindet. Glauben Sie, dass Phagentherapie in manchen Fällen eine Alternative sein kann?
Absolut. Bei chronischen Infektionen, bei denen sich nach und nach Resistenzen entwickeln, kann man voraussehen, dass diese Patienten irgendwann komplett resistente Stämme haben werden. Und bei diesen Menschen, wenn es keinen akuten Notfall gibt, aber eine klare Indikation, kann man auf Phagentherapie zurückgreifen, um eine kritisch gewordene Situation zu retten.
Das Problem ist, dass Phagentherapie derzeit etwas sehr Spezielles ist, das man nur in bestimmten Fällen macht, nicht routinemässig. Man macht ein bisschen Massarbeit, wenn man ein Problem hat. In diesen Fällen kann man das machen, aber die Umsetzung dieser Methode in die tägliche Medizin würde grosse Veränderungen erfordern, damit man weiss, wann und wie man sie einsetzt und wie man Zugang bekommt. Derzeit sind wir noch nicht so weit. Es ist eine offene Frage, ob das in allen grossen Spitälern notwendig ist – das ist aktuell eine offene Diskussion.

Im Ausland gibt es Zentren für Phagentherapie, wie in Lyon oder Brüssel. Sie haben auch Studien gemacht, wie die belgische Studie, die hundert mit Phagen behandelte Fälle umfasst. Ist das ein Schritt in Richtung systematischerer Einsatz?
Ja, eindeutig. Solche Zentren spezialisieren sich, meist gibt es ein Zentrum pro Land. Das kann Lyon sein, Brüssel, Lausanne [4]. Es entwickelt sich dort Expertise, Forscher:innen interessieren sich dafür, sammeln Phagen aus verschiedenen Quellen, charakterisieren sie für verschiedene Bakterien, um eine Palette von Behandlungsmöglichkeiten zu haben, wenn man sie braucht. Dazu entstehen dort Veröffentlichungen über Fälle, die sich dank Phagen sehr gut entwickelt haben, und dies schafft ein Bewusstsein für neue Möglichkeiten. Zusätzlich muss jetzt eine Art Industrialisierung erfolgen, um die regelmässige Nutzung dieser Phagen zu erleichtern, damit man sie in weiteren Bereichen einsetzen kann, falls die Antibiotikaresistenz weiter zunimmt.

Die Uniklinik in Löwen (Belgien) hat ein standardisiertes Behandlungsprotokoll namens PhageForce entwickelt. Es ist keine vollständige klinische Studie, aber es geht über die Behandlungen einzelner Fälle hinaus. Geht das in die richtige Richtung?
Ich denke, es ist notwendig, Studien zu haben, die mehr Fälle zusammenfassen, statt nur ein, zwei oder drei spektakuläre Einzelfälle, die nicht ausreichen, um die Nutzung der Phagen zu systematisieren. Es ist nützlich und wichtig zu zeigen, wie man automatisch oder halbautomatisch testen kann, ob ein bestimmter Phage oder Phagencocktail für den Bakterienstamm eines bestimmten Patienten geeignet ist.
Ich glaube, solche Studien zeigen, dass Phagenbehandlung möglich ist und wie man sie durchführen kann. Nach und nach wird dieser Machbarkeitsnachweis es bestimmten Zentren ermöglichen, sich als Anbieter von Alternativen zu Antibiotika zu positionieren, wenn man sie braucht. Die breite Anwendung ist noch weit entfernt, weil die Methoden noch nicht standardisiert sind. Man macht noch ein bisschen Massarbeit hier und da, und solange man keine systematischen Konzepte entwickelt hat, bleibt die Anwendung begrenzt. Aber es geht in diese Richtung. Es wird noch eine Weile dauern, aber nach und nach sollte das unser Arsenal gegen bakterielle Infektionen ergänzen.

Jean-Paul Pirnay, einer der führenden Forscher in Belgien auf diesem Gebiet, sagte mir, dass es vielleicht möglich sein werde, klinische Studien für häufige Keime wie Staphylococcus aureus oder Pseudomonas aeruginosa durchzuführen. Aber nicht für viele andere Erreger, die auch sehr wichtig sind. Er spricht von etwa dreissig Bakterienarten. Für diese brauche es einen massgeschneiderten Ansatz ohne klinische Studien. Wie denken Sie darüber?
Wir sind derzeit in der Pionierphase, in der wir den Nutzen von Bakteriophagen in bestimmten klinischen Fällen wiederentdecken. Unsere Freunde in Russland und Georgien wissen das schon lange. Wir entdecken es jetzt wieder. Zwischen dieser Entdeckungsphase und der systematischen Anwendung gibt es mehrere Schritte. Einer davon ist, Wissen zu entwickeln, zu informieren, Sammlungen von Phagen und Expertise für häufige Bakterien aufzubauen. Gross angelegte klinische Studien werden erst viel später möglich sein, wenn wir die Werkzeuge, die Erfahrung und die nötige Finanzierung haben. So weit sind wir noch nicht. Im Moment müssen wir von Einzelfällen zu kleinen Serien übergehen, um zu zeigen, wie man besten vorgeht, welche Anwendungsfälle geeignet sind und wie man systematischer werden kann. Es ist noch ein weiter Weg, bis wir echte multizentrische Studien [5] machen können, wie wir sie heute bei neuen Antibiotika machen.

Sie sagten, ausweglose Situationen wegen Antibiotikaresistenzen seien noch nicht alltäglich. Aber es gebe Patientengruppen, die über Jahre an schweren chronischen Infektionen mit belastenden Folgen leide. Gibt es Möglichkeiten, wie wir diesen Menschen helfen können ohne zehn Jahre zu warten, bis die von ihnen beschriebene Entwicklung durchlaufen ist?
Die grosse Frage ist, wie man sich positioniert. Geht es um Einzelfälle, ist es einfach, darauf hinzuweisen, wie wichtig das ist, aber es ist sehr schwer, dies zu verallgemeinern. Und die Politik ist dafür wenig empfänglich, weil es eben Einzelfälle sind. Aber man muss irgendwo anfangen.
Wichtig ist wahrscheinlich, dass die Politik erkennt, dass man in diese Technologien investieren muss, um Plattformen zu schaffen, die Wissen aufbauen, nützliche Bakteriophagen sammeln und eine bestimmte Zahl von Patienten behandeln können. Nicht systematisch, nicht routinemässig wie heute mit Antibiotika – bis es so weit war, hat es Jahrzehnte gedauert. Aber man sollte diese Chance bei den Phagen nicht verpassen, damit wir nicht auf Einzelfälle beschränkt bleiben, die wir nicht verallgemeinern können.
Es ist wichtig, dass die Politik erkennt, dass man mittel- bis langfristig investieren muss, weil das eine wichtige Rolle spielen wird. Ich denke, man kann sagen, ohne genaue Zahlen zu haben, dass die Phagentherapie im Vergleich zu anderen medizinischen Techniken keine sehr teure Methode ist. Das ist jedoch das Schwierige. Manche Antibiotika sind sehr billig. Manche kann man für sehr wenig Geld kaufen, aber wichtig ist das Wissen, das damit verbunden ist. Wichtig ist zu wissen, wie man sie herstellt, wie man sie einsetzt und wie man sie richtig verwendet. Und das kostet. Es müssen Unternehmen in die Phagentherapie einsteigen, die Studien durchführen, damit wir lernen können.

[1] Bakterien sind genetisch sehr variabel. Eine bestimmte Art (z.B. Pseudomonas aeruginosa) tritt deshalb in verschiedenen Varianten auf, die sich ständig verändern. Diese Varianten werden als Stämme bezeichnet.

[2] Infektionen sind eine wichtige Todesursache bei Krebspatient:innen. Bei ihnen ist auch die Häufigkeit von multiresistenten Infektionen erhöht.

[3] Wird jemand künstlich beatmet, können Bakterien aus Mund und Nase leicht in die Lunge gelangen und schwerwiegende Infektionen auslösen.

[4] Am Waadtländer Universitätsspital in Lausanne (CHUV) wird eine Phagenproduktion aufgebaut, die der Good Manufacturing Practice entspricht. Ärzte am CHUV befassen sich mit Phagentherapie. Dies könnte Kern eines Phagenzentrums sein. Es gibt auch Diskussionen zwischen dem CHUV und dem Genfer Universitätsspital (HUG) über eine Zusammenarbeit im Phagenbereich.

[5] Klinische Studien, die an mehreren Kliniken gleichzeitig durchgeführt werden, um grössere Patient:innenzahlen zu erreichen.

Das Interview wurde im Januar 2025 geführt.

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